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Verantwortung von Anfang an. Neue Werkstoffe machen die Baubranche nachhaltig nachhaltiger.
Lange galten Solarzellen auf dem Dach als Inbegriff ökologischen Bewusstseins. Heute sieht man einem Gebäude nicht mehr unbedingt an, ob und wie umweltschonend es geplant und gebaut wurde und wie energieeffizient es arbeitet. Das liegt an einer Vielfalt neuer Werkstoffe, die beides sind – schön und nachhaltig.

Texte: Melanie Schlegel, Sabrina Lettenmaier

„Ein großes Rätsel bleibt“, so schreibt der Architekturkritiker Gerhard Matzig, warum „nachhaltiges Denken und Handeln ausgerechnet auf jenem Terrain so selten anzutreffen sind, wo tatsächlich die Zukunft entschieden wird. Das ist das Areal von Architektur und Städtebau.“ Und das, so Matzig weiter, obwohl „in wenigen Jahrzehnten zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten und verdichteten Räumen leben werden.“ Die Vereinten Nationen sprechen deshalb vom ,urbanen Millennium‘. Schon jetzt werden rund 40 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes in Gebäuden produziert. In Gebäuden, die Architekten, Stadtplaner und Ingenieure entworfen haben.

Einer, der sich – lange bevor Nachhaltigkeit zum politischen und ökonomischen Modewort verkam – mit dem Thema befasst hatte, ist Werner Sobek. Der Stuttgarter Architekturprofessor sah die Welt schon 1974, ein Jahr nach der ersten Ölkrise, auf einen Ressourcenmangel zueilen. Damals fing er an, über alternative Architektur- und Material-Konzepte nachzudenken. Bereits 1992 hielt er, damals noch von vielen Kollegen belächelt, seine ersten Vorlesungen über „recyclinggerechtes Konstruieren“. Um die Jahrtausendwende baute Sobek R128, sein eigenes Wohnhaus aus Glas und Stahl – als vollkommen rezyklierbares Gebäude.

Auch sein jüngstes Projekt, die NEST-Unit UMAR im schweizerischen Dübendorf, folgt seinem Triple-Zero-Konzept: Zero Energy, Zero Emissions, Zero Waste. Das viergeschossige Forschungsgebäude NEST, das 2016 von der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt gebaut wurde, steht für „Next Evolution in Sustainable Building Technologies“ und beherbergt unter anderem das Modul UMAR. „Mit der Experimentaleinheit Urban Mining & Recycling zeigen wir, dass die am Markt verfügbaren Materialien geeignet sind, um Kreislaufgerechtigkeit zu gewährleisten“, erklärt Sobek. Er sagt Kreislaufgerechtigkeit statt Nachhaltigkeit und fordert: „Wir brauchen nicht nur eine Bauplanung, sondern auch eine Abbauplanung.“ Im Fall von UMAR heißt das: Alle Materialien in dem Gebäude lassen sich rückgewinnen, es entsteht kein Abfall, alles ist wiederverwert- oder kompostierbar.

Die Ausweitung der Nachhaltigkeit
„Bisher“, so stellt Blaine Brownell fest, Architekt und Materialforscher an der Universität Minnesota, „bedeutete Nachhaltigkeit in der Baubranche Energieeffizienz und konzentrierte sich auf Tabellenkalkulationen und Ökobilanzen.“ Mittlerweile aber geht es nicht mehr nur um Heizen, Lüften und Strom. Endlich fragt man sich auch: Wie nachhaltig sind eigentlich die Baumaterialien selbst? 560 Millionen Tonnen – und damit 90 Prozent aller in Deutschland verwendeten – mineralischen Rohstoffe werden jährlich zur Herstellung von Baustoffen eingesetzt. Die Deutsche Bundesstiftung Umwelt rechnet vor, dass die Baubranche für 54 Prozent des Abfallaufkommens verantwortlich ist. Allein für die Herstellung von Zement würden global mehr CO2-Emissionen freigesetzt als im gesamten Weltluftverkehr.

Rohstoffeffizienz ist also das Gebot der Stunde. Werner Sobek macht diese drängende Notwendigkeit sehr deutlich: Nehme man den Baustandard in Deutschland als Maßstab, müsste man für alle Erdenbürger rund zweitausend Milliarden Tonnen Baustoffe bereitstellen. Das funktioniere aber nicht, so Sobek, weil es von bestimmten Rohstoffen schon jetzt zu wenig gibt oder sie in absehbarer Zeit zur Neige gehen. Nicht einmal Katar, der ebenso bauwütige wie mit Sand gesegnete Wüstenstaat, kann seinen Bedarf an Beton decken und muss importieren. Denn der vom Wind rund geschliffene Sand ist für die Betonproduktion schlichtweg ungeeignet.

Was tun? Weniger Rohstoffe verwenden? Recyceln oder upcyceln? Oder an neuen Materialien forschen, die nicht nur funktional und ästhetisch, sondern auch ökologisch hohen Ansprüchen genügen? So wie im nüchtern-futuristischen Gebäude des Fraunhofer Instituts im oberbayerischen Valley, wo zum Beispiel an Typhaboard gearbeitet wird, einem Baustoff aus Rohrkolben und mineralischem Bindemittel, der vollständig kompostierbar ist und sich für tragende und dämmende Wandelemente eignet. Oder an Phasenwechselmaterialien (PCM) auf Basis von Zuckeralkoholen für Latentwärmespeicher oder an neuartigen Bio-Hybrid-Faserverbundkunststoffen …

Der Mensch als Materialforscher
Menschen und ihre Vorfahren waren seit jeher Materialforscher. Nicht von ungefähr sind ganze Epochen der Menschheit nach Materialien benannt worden. Was vor 3,4 Millionen Jahren mit der Steinzeit begann, über Bronze zu Eisen führte, über Leichtmetalle wie Aluminium zur Massenfertigung von Kunststoffen und weiter zu den Halbleitermaterialien Mitte des vergangenen Jahrhunderts, gibt auch den Rahmen vor, in dem sich irgendwann die Materialforschung als eigenständige Wissenschaft entwickelt hat. Vor etwa 150 Jahren wurden erste Institutionen wie die Preußisch Königliche Mechanisch-Technische Versuchsanstalt in Berlin (1871) gegründet oder die Anstalt für Prüfung von Baumaterialien in der Schweiz (1880). Heute bieten allein in Deutschland mehr als 40 Universitäten den Studiengang Materialwissenschaft an. Und an 20 weiteren Instituten wird erforscht, wie sich Materie in neue und nützliche Formen überführen lässt, wie bestehende Materialien zu Werkstoffen verarbeitet und neue innovative Materialien erfunden werden können.

Längst haben sich überall Showrooms etabliert, kreative Umschlagsplätze, von denen die Material ConneXion mit Hauptsitz in New York der vielleicht bekannteste ist. Eine renommierte Adresse im deutschsprachigen Raum findet sich in Stuttgart. Die Materialagentur raumPROBE präsentiert über 50.000 Materialmuster, die sich vor Ort bestaunen und anfassen und online recherchieren lassen. Einen „Streichelzoo für Planer“ nennen Hannes Bäuerle und Joachim Stumpp, die beiden Inhaber, ihr 2005 gegründetes Unternehmen. Bäuerle beschreibt den Bewusstseinswandel in der Baubranche so: „Seit etwa zehn Jahren fragen immer mehr Planer nach nachhaltigen und ökologischen Materialien, während früher der Fokus vor allem auf neuen Materialien lag.“

Dabei ist das Ringen um Nachhaltigkeit natürlich schon ziemlich alt. In der deutschen Sprache wurde der Begriff erstmals in der 1713 publizierten Abhandlung „Sylvicultura oeconomica“ des kurfürstlich-sächsischen Oberberghauptmanns Hans Carl von Carlowitz nachgewiesen. Seine auf die schlichte Botschaft „Nicht mehr Holz fällen als nachwächst“ gebrachte Kernaussage ist heute als „sustainable development“ in aller Munde. Wobei die häufige, ja inflationäre Verwendung des Begriffs der Nachhaltigkeit höchstens zu einem besseren Gewissen führt, aber nicht zwangsläufig zu einer besseren Welt. Zu tun gibt es immer noch viel, auch 300 Jahre nach Carlowitz. Immerhin hat die Schweiz als erstes Land der Erde den Begriff der Nachhaltigkeit 2000 in der Verfassung verankert. Als sechs Jahre später in Frankreich der Global Award for Sustainable Architecture von der Architektin und Professorin Jana Revedin ins Leben gerufen wurde, war das Wort „sustainable“ noch nicht einmal ins Französische übersetzt. Anlässlich der Architekturbiennale 2016 stellte Revedin dann aber fest, dass die Hälfte aller Kuratoren bereits Preisträger dieses Nachhaltigkeitspreises gewesen war. Vielleicht geht es also doch voran.

Ökologisch und schön
Der aktuelle Abschnitt der Erdgeschichte, das Anthropozän, gilt als das Zeitalter, in dem erstmals der Mensch als hauptsächlich gestaltende Kraft wirkt. Man könnte mit Gerhard Matzig auch sagen: Wir leben im Zeitalter der Planer. Werner Sobek, ganz Architekt und Bauingenieur, hat klare Vorstellungen, was seine Spezies heute zu leisten hat: „Ökologisches Bauen muss atemberaubend schön sein. Es darf sich nicht darauf beschränken, dass man sich ein paar Solarzellen aus dem Baumarkt holt und diese aufs Ziegeldach nagelt.“ Ökologie und atemberaubend schönes Bauen müssen und sollen keine Widersprüche mehr sein. Jetzt geht es darum, eine neue Ästhetik der Nachhaltigkeit auszuloten. Das zeigt sich auch an zahlreichen Gebäuden mit integrierter Photovoltaik, bei denen die PV-Zelle selbst zum Baumaterial für die Dach- oder Fassadenverkleidung wird. Konsequent zum Einsatz kam diese Idee zum Beispiel in Zürich-Leimbach: in einem Wohnhochhaus mit Dünnschichtmodulen, das nach den Plänen der Architekten Harder Haas Partner saniert wurde. Ein Beispiel dafür, wie neue Materialien Architekten zu neuen Entwürfen inspirieren. Und das dürfte erst der Anfang sein.

Ein Rundgang durch die Stuttgarter raumPROBE offenbart, wie viele Möglichkeiten sich Architekten mittlerweile bieten: eine nach Rosenblüten duftende Dekorbeschichtung etwa, eine in vielen Farben leuchtende Glaskeramik mit kristallin marmorierter Struktur als Bodenbelag – oder ein Terrazzo, für den zerschredderte Nagellack-Fläschchen als Blickfang in den Beton eingearbeitet wurden. So exotisch manche Produkte klingen und zum Teil auch aussehen – sie alle müssen sich den Anforderungen des Alltags stellen. Funktionieren die Akustikplatten aus Schafwolle so, wie sie sollen? Und welche Anwendungsszenarien sind für die besonders emissionsarme Holzwerkstoffplatte aus frischen Fichtenhackschnitzeln denkbar? Denn natürlich gelten auch für die neue Generation Baustoffe die offiziellen Maßstäbe für Brand- und Schallschutz, für Wärmedämmung und Emissionen, bis hin zu den Zertifizierungen nach LEED, BREEAM oder DGNB.

Die Natur als Vorbild
Da ist zum Beispiel der neue Verbundwerkstoff Carbonbeton, ein Textilbeton, der Beton- und Kohlefasern verbindet. Er ist langlebiger und fester, aber leichter als herkömmlicher Beton und hat das Zeug, die Architektur zu revolutionieren: Da Carbon – im Gegensatz zu Stahlbeton – nicht rostet, sind keine dicken Schichten mehr notwendig. Das spart Ressourcen und ermöglicht filigranes Bauen. Der neue Beton lässt sich aus allem herstellen, das Kohlenstoff enthält. Momentan nutzen die Forscher sogenannte Lignine, ein Abfallprodukt, das bei der Holzverarbeitung entsteht. 2019 soll das erste Carbonhaus auf dem Campus der Technischen Universität Dresden entstehen, wo der Textilbeton unter der Leitung von Prof. Manfred Curbach entwickelt wurde. Zwar kostet das Kilo in der Herstellung das Zwanzigfache im Vergleich zu Stahlbeton – aber bei Materialeinsparungen von 75 Prozent und deutlich längerer Lebensdauer sieht die Rechnung gleich ganz anders aus.

Am Wyss Institute der Harvard-Universität haben Wissenschaftler einen Kunststoff entwickelt, der nur halb so schwer ist wie Aluminium und trotzdem genauso fest. Gewonnen wird das Material aus Garnelenschalen. Daraus extrahierten die Wissenschaftler Chitin und folgen damit einem wichtigen Prinzip der modernen Materialwissenschaft, indem sie die Natur zum Vorbild nehmen. So entstand ein der Insektenhaut nachempfundener Stoff, der leicht zu verarbeiten und biologisch abbaubar ist. Und da Fischabfälle weltweit anfallen, ist diese Variante eine kostengünstige Alternative zu erdölbasierten Kunststoffen. Die Anwendungsmöglichkeiten sind vielfältig und noch offen. Vielleicht am Bau? Bei der Herstellung von Haushaltsgeräten oder in der Medizin? Man wird sehen. Das ist ja das Spannende an der Geschichte neuer Materialien: Wo sie sich überall einsetzen lassen, wird erst nach und nach entdeckt.

Rivalen des Schöpfers
Der finnische Designer Ville Kokkonen sagte einmal: „Ein Designer ist immer gleichzeitig ein Forscher im Alltag und ein Futurist.“ Und die Architektur, so sieht es die in Paris lehrende Jana Revedin, sei immer auch Bauhütte gewesen, Schmelztiegel verschiedenster Forschungseinrichtungen und ein Labor für undenkbare, ja unvorstellbare Denk-, Handwerksund Konstruktionsmodelle. Architekten und anderen Repräsentanten einer gestaltenden Profession kommt daher die Aufgabe zu, die Matzig in Anlehnung an den französischen Architekten Claude-Nicolas Ledoux beschreibt als „Planer, die zu Rivalen des Schöpfers werden, indem sie maßgeblich dazu beitragen können, die Schöpfung zu bewahren“. Falls die Treibhausgas-Konzentration bis zum Jahr 2050 um bis zu 80 Prozent gesenkt werden muss, wie vom UN-Klimarat gefordert, werde es vor allem auch auf die alte Kunst des Häuserbauens ankommen, so Matzig. Und die Chancen dafür, dass sie dieser Verantwortung gerecht werden kann, stehen angesichts der vielen Entwicklungen und Forschungsprojekte gar nicht mal so schlecht.
Durat
Ein Kuchenteller aus Kunststoffabfall? Sieht besser aus, als es klingt. Als das finnische Unternehmen Durat 1990 mit der Herstellung von Mineralwerkstoffen begann, hatte es das klare Ziel, ein neues, nachhaltiges Material zu entwickeln. Aus der Idee entstand ein einfaches Rezept für Durat: Einer Basismischung aus Polyester werden kleine Stückchen aus geschreddertem Alt-Kunststoff aus Schweden und Finnland beigemengt. Für Durat-Palace werden ausschließlich natürliche Pigmente aus Erdfarben verwendet. Der Anteil an recyceltem Material macht am Ende etwa 30 Prozent aus. Durat und Durat-Palace sind wasserfest und sehr robust – lassen sich kleben, sägen, schrauben oder biegen und werden gerne in Nassbereichen für Waschbecken, Dusch- und Badewannen oder als Außenmöbel in Form von Tischen, Stühlen und Bänken eingesetzt. Für das „Zero Waste Bistro“, ein Pop up-Restaurant aus recycelten Lebensmittelverpackungen, entstand sogar Geschirr aus Durat-Palace. Alle Durat-Produkte können am Ende ihres Lebens an den Hersteller zurückgegeben und vollständig wiederverwertet werden.

Urban Terrazzo
„They Feed off Buildings“ heißen die Erfinder von Urban Terrazzo. Ein Design- und Architekturkollektiv also, das sich von Gebäuden ernährt. Wie das geht? Statt die enormen Mengen an Bauschutt aus Abrissgebäuden der Deponie zu überlassen, werden Beton, Ziegel und andere Baumaterialien zerkleinert und geschliffen. Die Stückchen landen anschließend in einer Gussform mit weichem Beton – der bereits mit gemahlenen Ziegeln eingefärbt wurde. Nachdem die Fliesen getrocknet und geschliffen sind, wird – was einst Bauschutt war – auf Fußböden oder an Badezimmerwänden als einzigartiges Mosaik sichtbar.

Pentatonic
„Molekules live forever”, sagen die Möbelmacher und Materialerfinder von Pentatonic. Denn Kaffeebecher, Coladosen, Shirts oder Plastikflaschen mögen eine kurze Gebrauchszeit haben – können aber, in neue Form gebracht, ein zweites, drittes, viertes Leben führen. So wird aus Alltagsmüll ein atmungsaktiver Filz, ein starkes Carbontextil oder extrem kratzfestes Glas. Design-Möbelstücke, Geschirr, Textilien … Pentatonic experimentiert und designt mit allem, was unser Abfall hergibt. Aus eingeschmolzenem Smartphone-Glas wird kratz- und spülmaschinenfestes Geschirr. Aus Cocktail-Rührstäbchen werden Barhocker. Aus ausgedienten Frappuccino-Bechern entsteht eine recycelte Version des bekannten Starbucks „Bean-Chair“.
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Geschirr aus Kunststoffabfall: Durat-Palace heißt die Basismischung aus Polyester, der kleine Stückchen aus geschreddertem Alt-Kunststoff beigemengt sind.
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Der Kuchenteller aus Durat-Palace kann vollständig wiederverwertet werden.
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Das Unternehmen Urban Terrazzo mischt Beton mit zerkleinerten und geschliffenen Bauresten: Heraus kommen einzigartige Mosaik-Fliesen.
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Aus ausgedienten Frapuccino-Bechern entsteht eine recycelte Version des bekannten Starbucks Bean-Chairs.
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Pentatonic experimentiert mit Alltagsmüll. Das Resultat: Design-Möbelstücke, Geschirr und Textilien.
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